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Zeit ist nicht Geld

Alternative Wirtschaftskonzepte mit Zeit als Währung gewinnen wieder an Auftrieb. Trotzdem scheint das Ende des klassischen Währungssystems noch Science-Fiction.

Die Zeit immer fest im Blick. Was wir in unseren heutigen ökonomisch getriebenen Gesellschaften oft vermissen, ist in der filmischen Zukunftsvision „InTime – Deine Zeit läuft ab“ das Allerwichtigste. Nicht nur für Will Salas, aufgewachsen im Ghetto Dayton in Ohio (USA), sondern für die gesamte Gesellschaft. Denn die allgemeine Währung heißt nicht US-Dollar, Yen oder Euro. Vielmehr ist die Zeit allbestimmend. Wer genügend auf der Kante hat, lebt länger. Mit dem normalen Alterungsprozess ist es aufgrund einer Genmanipulation mit 25 Jahren Schluss. Danach bleibt eine restliche Lebenszeit von einem Jahr, diese wird ständig auf einer im Unterarm implantierten Uhr gecheckt. Darüber hinaus heißt es Zeit scheffeln. Diese kann wie Geld erarbeitet, ausgegeben, verschenkt oder gestohlen werden kann. Ein Wettlauf um die…

Von einer derartigen Vision sind wir noch weit entfernt. Trotzdem bestanden bereits im 19. Jahrhundert Systeme mit Zeit als Währung. Heutzutage nehmen diese zu. Dabei stellen sich mehrere Fragen: Kann dies tatsächlich neben einer landesweiten Währung funktionieren? Was bringen „Zeitbanken“, wo Zeit für gemeinnützige Dienstleistungen getauscht wird? Können diese wirklich das soziale Gemeinschaftsgefühl innerhalb einer Region stärken?

Doch zuerst einmal zum Anfang: In England, Frankreich und den USA versuchte man sich bereits vor rund 200 Jahren mit Zeitwert-Systemen. Sie galten als Alternative zum aufkommenden Kapitalismus und sozialer Ungleichheit. Nach und nach entwickelten sich weltweit sogenannte Zeitbanken. Das Prinzip dabei ist simpel: Ein Nutzer leistet etwa zwei Stunden persönliche Dienstleistung an ein anderes Mitglied. Im Gegenzug bekommt er diese auf seinem Konto gutgeschrieben. Bei Bedarf kann das Mitglied die angesparte Zeit – auch Jahre später – abrufen. Beim Nutzer, der die Hilfe beansprucht hat, werden zwei Stunden abgezogen. Als Währung dient in diesem System somit einzig Zeit. Es ist eine Art gemeinnütziges Tauschgeschäft: Weder wird Geld lukriert noch fallen Zinsen an.

Die weltweit erste Zeitbank entstand 1973 in Japan. Die Hausfrau Teruko Mizushima gründete in Osaka die Volunteer Labour Bank, die bis heute nachhaltigen Einfluss auf die Versorgung der alternden Gesellschaft hat. Denn 1994 erfand der ehemalige Justizminister Tsutomu Hotta die Pflegewährung „Fureai Kippu“ („Ticket für eine Pflegebeziehung“), die in der Beliebtheitsskala rasch nach oben kletterte – vor allem in ärmeren, ländlichen Regionen. Wie viel Fureai Kippu man bekommt, hängt dabei von Art und Dauer der Hilfeleistung ab. Mit kolportierten drei Millionen japanischen Nutzern und 390 Zweigstellen ist Fureai Kippu die größte Pflegewährung weltweit und hat sich in der japanischen Pflegeversorgung als Ergänzung zu den staatlichen Stellen etabliert. 

Zeitbanken als globales Phänomen

In den USA und England boomte das Geschäft mit den „time banks“ – hier soll es jeweils rund 300 Stück geben – ab den 1990er-Jahren. Wiederum waren sie als Globalisierungskritik gedacht, indem sich Menschen einen regionalen Wirtschaftskreislauf erschaffen. Als Wegbereiter gilt der Jurist Edgar Cahn, der dem Abbau von staatlichen Sozialleistungen entgegenwirken wollte. Überhaupt sind die „community currencies“ heute im niederschwelligen Bereich ein globales Phänomen.

Stellt sich die Frage nach der unterschiedlichen Rolle von Zeitbanken. Für Bernard Lietaer, ehemaliger leitender Angestellter der belgischen Zentralbank und Experte für Alternativwährungen, gibt es keine: „Zeit ist weltweit die zweithäufigste Komplementärwährung, da jeder Zeit gleich nutzen kann. Der Einfluss von Zeitbanken ist überall relativ ähnlich. Sie können hauptsächlich das Sozialkapital in einer Gemeinschaft stärken. Die ökonomischen Effekte in einem Staat sind aber gering.“ Dementsprechend schreibt der Finanzexperte Komplementärgeldern lediglich eine regionale Nischenfunktion zu, die neben der offiziellen Währung existiert. Doch für eine ausgewogene regionale wirtschaftliche und soziale Entwicklung können Alternativwährungen durchaus wichtig sein. Denn Inflation und Zinsdruck fallen weg; zudem gibt es keinen Wertmaßstab durch klassische Währungen. Die Nutzer von „community currencies“ profitieren von der Stärkung der Gemeinschaft und regionaler Unabhängigkeit. Lietaer spricht in diesem Zusammenhang von Förderung der „Gemeinschaftsökonomie“ („Yin economy“) anstatt der dominierenden Konkurrenzökonomie.

Zeitbank für Alt & Jung in der oberösterreichischen Gemeinde Lengau

Diese Aspekte finden sich beispielsweise in der „Zeitbank für Alt und Jung“ in der oberösterreichischen 4.500-Einwohner-Gemeinde Lengau. Mit 125 Mitgliedern ist sie die größte Zeitbank in Österreich. Im Vordergrund steht das soziale Miteinander: „Es geht um regionale Nachbarschaftshilfe. Wir wollen die Lebensqualität von Menschen im Alter steigern. Betreuungsbedürftige sollen länger in ihren eigenen vier Wänden bleiben können. Und betreuende Angehörige entlastet werden“, sagt die Obfrau der Zeitbank Lengau, Siegrid Pammer. Das Mitglieder-Schwergewicht liegt eindeutig bei den Älteren: 2016 machte der Altersdurchschnitt 66 Jahre aus. Insgesamt wurden von 49 Helfern 858 Stunden geleistet. Auf Geberseite unterstreicht das System den Vorsorgecharakter: Die Stunden sollen auch im hohen Alter bei eigener Betreuungsbedürftigkeit noch abrufbar sein, damit man sich eine „vierte Säule der Altersvorsorge“ aufbauen kann – neben der gesetzlichen, betrieblichen und privaten.

Das Sozialkapital wird gestärkt, es zählen Werte wie Selbstbestimmtheit. (Siegrid Pammer)

Dementsprechend kann Pammer auch keinen wirtschaftlichen Mehrwert festmachen: „Man kann es als Sozialkapital bezeichnen, da die Beziehungen gestärkt werden. Es zählen Werte wie Selbstbestimmtheit und Hilfe zur Selbsthilfe“, sagt die 65-jährige ehemalige Leiterin einer Personal- und Weiterbildungsagentur. Es sind Leitgedanken, denen sich mittlerweile mehr als 40 Zeitbanken österreichweit verschrieben haben. Bei der Zeitbank Lengau werden die erbrachten Stunden anhand von Gutscheinen auf persönliche Zeitkonten gebucht. Doch die Sicherung dieser Guthaben ist eine der größten Schwächen des Systems. Wie wird bewerkstelligt, dass die Stunden auch in zehn Jahren noch zur Verfügung stehen, etwa bei einer Vereinsauflösung? Pammer ist sich des Problems bewusst: „Wenn das EDV-System kaputtgeht, haben wir noch die Zeitscheine und umgekehrt. Alles andere ist aber nicht gesichert. Bei Eintritt erfährt jedes Mitglied, dass es keinen rechtlichen Anspruch auf eine Gegenleistung hat.“ Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum Zeitbanken in Österreich – etwa im Gegensatz zu Italien – gesetzlich nicht anerkannt sind. In der Schweiz ist das anders: Bei der Stiftung Zeitvorsorge St. Gallen bleiben die angesparten Stunden auch für die Zukunft gesichert. Die Stadt tritt als Garantin auf und garantiert die Einlösbarkeit des Zeitguthabens.

Vor dem Hintergrund mehrerer globaler Entwicklungen werden Zeitbanken vielleicht noch eine wesentliche Rolle spielen. Denn öffentliche Versorgungssysteme werden hart auf die Probe gestellt werden: Gesellschaften werden weltweit mit einer Überalterungswelle konfrontiert.

  • In Österreich wird laut UNO der Anteil der über 60-Jährigen von derzeit 24 Prozent bis zum Jahr 2050 auf 37 Prozent klettern.
  • In den USA steigt dieser Anteil bis 2050 von derzeit 21, auf rund 28 Prozent.
  • Am schlimmsten erwischt es aber Japan: Das Land hat bereits die älteste Bevölkerung der Welt, ein Drittel ist über 60 Jahre alt. Bis 2050 soll der Anteil jedoch auf satte 43 Prozent steigen.

Die Debatte rund um den Zuwachs an pflegebedürftigen Menschen wird also überall Fahrt aufnehmen.

Auch die Gesamtwirtschaft wird mit Einbußen rechnen müssen: Der Ageing-Report der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2015 führt an, dass sich die öffentlichen Ausgaben für Langzeitpflege (Geld- und Sachleistungen) in Österreich von 2013 bis 2060 verdoppeln werden – das wären zehn Milliarden Euro. Wie also kann das heimische Pflegesystem zukunftsfit bleiben? „Ein wesentliches Problem ist, dass die Kosten im Vordergrund stehen. Gleichzeitig werden 80 Prozent der Pflegeleistungen von den Angehörigen erbracht. Es ist gerade für Berufstätige ein Spagat, auch noch pflegebedürftige Angehörige zu unterstützen“, sagt Gesundheitsökonomin Monika Riedel vom Institut für Höhere Studien Wien (IHS). Zudem setzt sich Österreich einen internationalen Trend zum Ziel: „Mehr ambulant statt stationär. Denn das Stationäre ist eine erhebliche Umstellung für die Betreuten – und extrem teuer.“

Es wäre schon, wenn man Zeitbanken als zusätzliches Instrument anbietet. (Sigried Pammer)

Hier kommen die Zeitbanken ins Spiel. Auch sie verfolgen den Ansatz, durch Altenbetreuung den Gang ins Altersheim hinauszuzögern. Sie haben noch einen anderen wirtschaftlichen Vorteil: Es werden Leistungen angeboten, die es am Markt nicht – oder nicht leistbar – gibt; also einfache Betreuungsleistungen, denn eine professionelle Pflege wie Waschen oder medizinische Versorgung wird nicht versprochen. Diese sind den mobilen Diensten vorbehalten: „Es wäre schön, wenn man Zeitbanken als zusätzliches Instrument zu den bestehenden sozialen Diensten anbietet. Als Konkurrenz dazu sehen wir uns nicht“, so Pammer. Beim IHS sieht man das anders: „Das ist kein stabiles Säulenmodell in der österreichischen Pflege.“

Zeitbanken haben sicherlich Potenzial. Ob sie die regionalen Hürden irgendwann überspringen können, hängt nicht zuletzt auch vom politischen Willen ab. Aus globaler Sicht zeichnet Währungsexperte Bernard Lietaer ein positives Zukunftsbild: „Die Frage ist, ob sich Komplementärwährungen als ‚common‘ etablieren und verwalten können oder nicht. Die Modelle, die richtig verwaltet werden, haben eine große Zukunft.“ Dafür braucht es aber vor allem eines: Zeit.

Niklas Hintermayer,
Redakteur

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