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Utopie mit Zukunfts-aussichten

Eine Insel, auf der die Menschen ohne Privateigentum in durchorganisierten Groß-WGs zusammenleben und alle Teilzeit arbeiten – was sich wie das Leben in einem postmodernen Ökodorf anhört, ist in Wirklichkeit eine 500 Jahre alte Utopie.

Als der Engländer Thomas Morus 1516 sein Werk „Utopia“ veröffentlichte, hatte er wohl kaum damit gerechnet, dass seine Vision einer besseren Welt zu einem absoluten Bestseller werden sollte. Und auch heute, ein halbes Jahrtausend später, lohnt sich ein Blick auf diese ausgeklügelte Zukunftsvision.

Die Insel der Gleichberechtigten

Begeben wir uns gedanklich in die Vergangenheit – ins England des 16. Jahrhunderts. Die Gesellschaft war von sozialer Ungleichheit gekennzeichnet: Ein kleiner Teil der Bevölkerung war extrem wohlhabend, der Großteil litt als Kleinbauern, Häusler, Landarbeiter oder Tagelöhner unter Hunger und Elend. In dieser Zeit entwirft der Staatsmann und Humanist Thomas Morus eine Vorstellung einer anderen Gesellschaftsform – einer besseren Welt, in der Egalität und Zufriedenheit herrschen. Diese fiktive Welt erweckt er auf dem Papier zum Leben: eine Insel namens Utopia, die jenseits von Raum und Zeit existiert. Der griechische Begriff Utopia kann sowohl einen Nicht-Ort als auch einen glücklichen Ort beschreiben – so bleibt unklar, ob dieser Ort überhaupt existieren bzw. jemals erreicht werden kann. Morus’ Roman wird das Genre der Sozialutopien begründen, die sich literarisch mit idealen, wünschenswerten Gesellschaftsformen beschäftigen.

Was können wir heute noch mit dieser Fiktion anfangen? Brauchen wir überhaupt Utopien? Ist Morus’ Utopia noch immer ein erstrebenswertes Ideal oder sind wir nicht sogar schon ein ganzes Stück weiter?

Gemeinschaftliches Wohnen und Leben als Norm

Heute kann sich kaum jemand vorstellen, per Los alle fünf Jahre den Wohnort zu wechseln – so von Morus in Utopia beschrieben. Allerdings ist eine hohe Flexibilität in den Wohnkonstellationen heute durchaus die Norm – nur eben nicht von oben auferlegt wie in Utopia, sondern eher den sich ändernden Bedürfnissen folgend. In Utopia wohnt man in Wohnungen mit zugewiesenen Mitbewohnern, die nicht unbedingt zur eigenen Familie gehören müssen – mit bis zu 40 Leuten auf dem Land und zehn bis 16 Personen in Stadt-WGs. Mit wem man zusammenlebt, möchte man sich heute wohl lieber selbst aussuchen. Tatsächlich gibt es heute auch mehr Möglichkeiten für eine offene Lebensraumgestaltung als je zuvor – überall entstehen gemeinschaftsorientierte, genossenschaftliche Bau- und Wohnprojekte.

Cohousing ist in Skandinavien und den USA bereits seit 30 Jahren erfolgreich. Eines der bekanntesten – und auch das erste – Cohousing-Projekt in Österreich ist die Lebensraum-Siedlung in Gänserndorf, circa 20 Kilometer von Wien entfernt. Gemeinschaft wird großgeschrieben, kombiniert mit ökologischem Leben im Grünen. Die 32 Wohneinheiten bieten ausreichend Privatsphäre und sind mit überdachten Gängen mit dem Gemeinschaftsraum verbunden. Auch die Grünflächen wie der Gemüsegarten oder die Streuobstwiese sowie Freibad, Kinderspielplatz oder Fußballplatz werden gemeinschaftlich genutzt.

Das Moriyama House in einem Vorort von Tokio kann als Miniaturstadt gesehen werden. Das Haus, bestehend aus zehn einzelnen Baukörpern, hat kein Zentrum und zieht keine Grenzlinie. Die Baukörper beherbergen sowohl gemeinschaftlich genutzte Bereiche, Küchen und Bäder, als auch die privat genutzten Zimmer. Alle sind mit dem Außenraum, dem Garten und Ort der Gemeinschaft, verbunden. Der Eigentümer lebt somit in einer Gemeinschaft mit anderen – Einzelpersonen, Paaren, Familien mit Kindern – zusammen, und das alles auf engstem Raum.

Bei gemeinschaftlichen Wohnformen spielt die Kernfamilie immer noch eine wichtige Rolle, die Großfamilie allerdings wird zunehmend durch Freunde, Patchwork-Konstellationen und somit eine flexible Wahlverwandtschaft ersetzt. Wohnverbände orientieren sich heute nicht mehr an Familien, sondern an Interessen.

Aus zu großen Familien werden Menschen in kleinere umgesiedelt. Zuwanderung und Auswanderung wird je nach Bedarf gesteuert.

(Thomas Morus in Utopia)

Schätzungen gehen von 2.000 bis 3.000 gemeinschaftlichen Wohnprojekten in Deutschland aus. Diese Community-orientierte Form des Zusammenlebens wird künftig noch weiter an Bedeutung gewinnen, sowohl in urbanen Räumen, um Nähe, Vertrauen und Verlässlichkeiten zu bekommen, als auch in ländlichen Räumen, indem man sich gemeinschaftlich seinen Traum des Zusammenlebens ermöglicht. Vor allem der demografische Wandel befeuert den Trend zum Collaborative Living. In Wien beispielsweise haben von den heute 50-64-Jährigen nur noch 34 Prozent Kinder. Dazu kommt der Trend zum Single-Dasein im Alter. Über die Hälfte der über 50-Jährigen können sich in Zukunft vorstellen, in einer Wohngemeinschaft mit einer separaten Wohnung zu leben, um sich gegenseitig zu unterstützen. Insgesamt stehen 39 Prozent aller Personen, die für die Studie „Gemeinschaftliches Wohnen in Wien – Bedarf und Ausblick” befragt wurden, diesen Wohnformen positiv gegenüber.

Wohngemeinschaften, in denen mehrere Generationen – jedoch ohne verwandt zu sein – unter einem Dach wohnen, werden also weiter an Popularität gewinnen. Getrieben wird diese Entwicklung jedoch von individuellen Bedürfnissen und nicht von rational gesteuerter Optimierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens.

Alle arbeiten Teilzeit

In Utopia gilt der Sechsstundentag. Was die Arbeitswelt angeht, kommt Morus dem Mindset der Generation Y ziemlich nahe. Der Megatrend New Work beschreibt diese veränderte Einstellung zur Arbeit, in einer Welt, in der Job und Freizeit immer mehr verschmelzen. In einigen innovativen Teilen der Welt, etwa einigen Ländern Skandinaviens, sind flexible und verkürzte Arbeitszeitmodelle bereits umgesetzt – aber stehen zugleich immer wieder zur Diskussion. In Schweden wurde in einigen Unternehmen der Sechsstundentag eingeführt, u. a. bereits 2003 in einem Toyota-Service-Center in Göteborg oder bei dem Start-up Brath in Stockholm. In Frankreich ist die 35-Stunden-Woche als reguläre Arbeitszeit gesetzlich verankert. In Island und Malta arbeiten 22 Prozent der Führungskräfte in Teilzeit – in Deutschland sind es lediglich neun Prozent.

Die Behörden beschäftigen die Bürger nicht gegen ihren Willen mit überflüssiger Arbeit.

(Thomas Morus in Utopia)

Das klingt bereits nach einem Ansatz, der sich ganz klar gegen Präsentismus im Büro richtet. Die 30-Stunden-Woche ermöglicht es den Bürgern von Utopia, sich weiterzubilden: Die öffentlichen Vorlesungen der Wissenschaftler zu besuchen ist eine der Top-Freizeitbeschäftigungen in Utopia.

Der freie Zugang zu Bildung und die reduzierte Arbeitszeit sind der Teil der Utopie, die uns heute als konkrete Zukunftsvision gelten kann. Die Bedingungen waren noch nie so gut. Noch nie zuvor konnten so viele Menschen auf so viel Wissen zugreifen. Durch das Internet, die Tutorial-Kultur auf Youtube, Google Scholar und Massive Open Online Courses ist Wissen kein exklusives Gut mehr, dass eine kleine, elitäre Gruppe von Menschen vorbehalten ist.

Wenn wir ernsthaft eine Vision der Teilzeit-Arbeitsgesellschaft anstreben, gibt es noch einiges zu tun. Die Experimente mit einer reduzierten Tagesarbeitszeit zeigen aber ganz klar: Die Mitarbeiter sind glücklicher, gesünder und produktiver. Gesetzliche Rahmenbedingungen können helfen, den Einstieg in Teilzeit zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Doch hinzu muss auch ein Umdenken in der Gesellschaft kommen: Zu sehr sind wir heute in einem „Ich bin, was ich leiste“- Denken verankert. Wir müssen lernen, uns nicht mehr nur über unsere Arbeit zu definieren und daraus unser Selbstwertgefühl zu ziehen. Eine moderne Gesellschaftsutopie kann sich hier tatsächlich an einem 500 Jahre alten Werk orientieren. Wir leben in Zeiten des Burn-outs, der übersättigten Märkte, der Wegwerfgesellschaft – nichts liegt näher, als das System einmal runterzufahren. Ein Gedankenexperiment lohnt sich: Was würde passieren, würden die Büros dieser Welt zwei Stunden früher zumachen?

Teilen statt Besitzen

Wohl der radikalste Punkt in Morus’ Roman ist: Auf der Insel Utopia gibt es kein Privateigentum. Die Geldwirtschaft ist dort konsequent abgeschafft.

Indessen scheint es mir – um es offen zu sagen, was ich denke – in der Tat so, dass es überall da, wo es Privateigentum gibt, wo alle alles nach dem Wert des Geldes messen, kaum jemals möglich sein wird, gerechte oder erfolgreiche Politik zu treiben, es sei denn, man wäre der Ansicht, dass es dort gerecht zugehe, wo immer das Beste den Schlechtesten zufällt.

(Thomas Morus in Utopia)

Aus heutiger Sicht scheint diese Vorstellung völlig realitätsfremd. Denn wie jedes Kind weiß: Geld regiert die Welt. Zugleich wird gerade immer mehr Menschen klar, dass unser globales Wirtschaftssystem hochgradig überhitzt ist. Zaghafte Wünsche nach alternativen Wirtschaftsformen werden laut: von der Postwachstumsökonomie bis zur Kreislaufwirtschaft.

Zwar spielt Besitz heute noch immer eine große Rolle, doch empfindet vor allem die jüngere Generation Eigentum auch zunehmend als Ballast, den man abwerfen möchte, um sich freier bewegen zu können. Materielle Güter als Statussymbole verlieren ihre Attraktivität in einer Gesellschaft des Überflusses. Die Sharing Economy ist vor allem im urbanen Raum auf dem Vormarsch. Urban-Gardening-Projekte, gemeinschaftlich bewirtschaftete Gartenflächen, finden sich inzwischen in unzähligen Städten. Carsharing macht es möglich, im städtischen Raum komplett auf ein eigenes Auto zu verzichten – inzwischen gibt es auch schon Sharing-Angebote für E-Fahrzeuge (Autos, Roller, E-Bikes). Geld verliert seine Rolle als dominantes Zahlungsmittel – durch die zunehmende Digitalisierung werden Zahlungsvorgänge immer mehr virtualisiert und auch andere, alternative Währungen wie Kryptowährungen treten in Erscheinung. Was aktuell noch Rand- und Nischenphänomene sind, kann sich in wenigen Jahren immer mehr in den Mainstream bewegen.

Utopien für eine bessere Zukunft

Woran es in Utopia hakt: Der Staat ist allmächtig und weiß genau, was das Beste für seine Bürger ist. Wo alles im Kollektiv organisiert wird, ist kein Platz für Individualität. Hingegen leben wir heute in einer hyperindividualisierten Gesellschaft, in der ein solch bevormundendes und patriarchalisches System undenkbar ist.

In vielen Punkten sind wir glücklicherweise schon weit über Morus’ Idealstaat hinausgekommen: Sklaverei ist verboten. Frauen werden global gesehen zunehmend als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt. Patriarchalisch-totalitäre Systeme sind überall auf der Welt auf dem absteigenden Ast. Tatsächlich sind die meisten Länder der Welt heute Demokratien. Eigentlich sind wir in gewissen Bereichen näher dran an einer Utopia-artigen Gesellschaft als je zuvor: Die meisten Menschen haben heute Zugang zu Bildung, können lesen und schreiben, immer weniger Menschen leben in Armut oder leiden Hunger, die Lebenserwartung steigt und die Kindersterblichkeit geht in fast allen Ländern der Welt zurück. Es gibt mehr Grund zur Hoffnung auf ein besseres Miteinander als zu Morus’ Zeiten vorstellbar.

Doch Utopien glänzen heute vor allem durch ihre Abwesenheit. Die soziale Utopie scheint abgelöst worden zu sein vom Allheilsbringer der Technologie, befeuert durch die Silicon-Valley-Weltverbesserer und Digitalisierungspropheten. Vernetzung soll unsere Städte smart machen, Quantify-Yourself-Apps sollen die eigenen Unzulänglichkeiten ausmerzen, Kryptowährungen lösen das korrupte Finanzsystem ab und das Internet ist zuständig für egalitären Zugang zu Wissen und Macht.

Die wahre Innovation jedoch ist naturgemäß eine soziale. Technologie kann immer nur so gut sein wie die Gesellschaft, die sie nutzt. Hier können Utopien aus der Vergangenheit uns inspirieren, die oft vollständig ohne Technik-Determinismus auskommen. Wir verfügen heute über einmalige Technologien, mit denen eine ganz neue Dimension an sozialer Innovation möglich wird. Das Vorhandensein der Technologien allein jedoch reicht nicht aus.

Es ist uns klar, dass wir eine bessere Gesellschaft nicht durch einen starken, regulierenden Staat erzeugen können. Es ist uns auch klar, dass die radikale Gleichstellung von allen Menschen und die gleichberechtigte Verteilung von Eigentum auf alle nicht ohne Weiteres funktionieren. Was uns fehlt, ist eine moderne, zeitgemäße Utopie. Ein Ideal, an dem wir uns orientieren können. Ein Bild einer gerechten Gesellschaft mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln.

Die Zeit für Utopien ist jetzt.

Zu den Autoren:
Lena Papasabbas arbeitet für das Zukunftsinstitut als Autorin, Social-Media-Managerin und Redakteurin. Als Kulturanthropologin beobachtet sie die Facetten der vernetzten Kultur und analysiert ihre zentralen Entwicklungsdynamiken.
Janine Seitz leitet die Report-Publikationen beim Zukunftsinstitut und ist Co-Autorin des jährlich erscheinenden Retail Reports. Ihr Schwerpunkt liegt auf Trends in den Bereichen Digitalisierung, Online-Identität und Sicherheit.
Das Zukunftsinstitut wurde 1998 gegründet und hat die Trend- und Zukunftsforschung in Deutschland von Anfang an maßgeblich geprägt. Heute gilt das Unternehmen als einer der einflussreichsten Thinktanks der europäischen Trend- und Zukunftsforschung.

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