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Die Zahl der Nutzer von sozialen Medien könnte bis 2020 auf rund drei Milliarden Menschen ansteigen – ein Drittel der gesamten Erdbevölkerung. Doch was bedeutet dies für unsere Gesellschaft?

Im dystopischen Roman „Fahrenheit 451“ beschrieb Autor Ray Bradbury bereits 1953 eine Gesellschaft, deren Mitglieder durch permanenten Medienkonsum sediert werden. In Bradburys Welt besitzen einige Haushalte bis zu vier Fernseher und werden ständig durch Rundfunk beschallt – Bücher sind hingegen streng verboten. Die ganze Gesellschaft ernährt sich intellektuell von diesem Massenkonsum. Selbst Bradbury meinte in einem Interview, dass seine gesellschaftliche Skizze in „Fahrenheit 451“ auf Technologie basiert und das abbildet, was wir uns durch übermäßigen TV-Konsum antun.

Heutzutage steigt die Technologienutzung rasant an. Internet, Soziale Medien, Videospiele, TV-Shows – sie begleiten unseren Alltag. Die Nutzung der virtuellen Räume ist selbstverständlich geworden. Doch was passiert, wenn dieser Trend kippt, wenn wir aus dieser digitalen Welt tatsächlich nicht mehr entkommen? In Deutschland sind mittlerweile rund 270.000 Jugendliche vom Internet abhängig. Diese Zahl hat sich innerhalb von nur vier Jahren verdoppelt, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) und die Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler im Februar dieses Jahr mitteilten. Daria Kuss forscht an der International Gaming Research Unit an der Nottingham Trent University – ihre Schwerpunkte bilden Spielsucht und Persönlichkeitstheorien im Bereich der Gesundheits- und Cyberspychologie.

Wir sprachen mit ihr über den Realitätsgehalt von „Fahrenheit 451“, Einsamkeit und Netflix’ „Drogenpläne“.

Forbes: Wie weit sind wir von einer Dystopie wie in „Fahrenheit 451“ entfernt?

Kuss: Technologie ist in unserer heutigen Zeit sogar noch wichtiger als in diesem Roman geworden. Die Verfügbarkeit von Technologie und Internet über Smartphones und Tablet erhöht die Bequemlichkeit des Zugriffs auf alle Internetinhalte von unterwegs. Das bietet einerseits viele Möglichkeiten, andererseits kann es bei manchen Nutzern zu übermäßiger und zwanghafter Verwendung führen. Meiner Meinung nach – und die basiert auf langjähriger Forschung, die ich zu diesem Thema durchgeführt habe – müssen wir ein ausgewogeneres Verständnis herstellen.  Also, einerseits die Vorteile, die Technologie in unser Leben bringt, zu schätzen wissen – aber sich andererseits auch potenzieller Fallstricke und möglichen Gefahren bewusst sein. Das schließt mögliche psychische Gesundheitsprobleme (wie Sucht, Stress und Angstzustände) und Gefahren hinsichtlich der Online-Privatsphäre ein.

Der Suchtforscher Nir Eyal schreibt in seinem Buch „Hooked“ folgendes: „Die Technologien, die wir verwenden, sind zu einem Zwang geworden. Wir hängen am Haken.“ Stimmen Sie dem zu?

Die Menschen sind sehr auf ihre Technologien angewiesen. Smartphones erfordern mit ihren ständigen Benachrichtigungen eine Aufmerksamkeit, weshalb viele von uns mit dem, was wir gerade tun, aufhören, um unser Telefon zu überprüfen. Dies führt zu Ablenkung und mangelnder Aufmerksamkeit und kann problematisch sein.

Heute gibt es jeden Tag 1,37 Milliarden aktive Facebook-Nutzer. Laut Statista wird die Macht der sozialen Netzwerke zunehmen: Die Zahl der globalen Nutzer wird bis 2020 auf rund drei Milliarden steigen, das ist ein Drittel der gesamten Erdbevölkerung. Ein Ende der sozialen Medien ist nicht in Sicht?

Wir sehen, dass es eine Verschiebung dahingehend gibt, welche Art von Websites von wem genutzt werden. Zum Beispiel nutzen junge Leute weniger Facebook und verwenden stattdessen Snapchat und Instagram. Eine unterschiedliche Nutzung kann auch unterschiedliche Effekte haben: Wir haben in unserer Forschung herausgefunden, dass die Verwendung von Instagram sich in Bezug auf Sucht- und Depressionssymptome negativer auswirkt als jene traditionellerer Websites, wie beispielsweise Twitter.

Ihre Studien zeigen, dass Verhaltensstörungen ähnliche Strukturveränderungen im Gehirn auslösen wie substanzbasierte Süchte. Wie groß ist das Problem der Internetabhängigkeit und des zwanghaften Glücksspiels weltweit?

Das Gebiet der Internetsucht ist ein relativ neues Forschungsgebiet. Studien zeigen, dass die Prävalenz dieser Krankheit zwischen ein und 18 Prozent liegt, je nach Land und Bevölkerung und dem verwendeten Messinstrument. Es ist jedoch wichtig, sich bewusst zu sein, dass Suchtsymptome nur bei einer kleinen Anzahl von übermäßigen Nutzern auftreten. Die meisten User werden nicht von den Technologien abhängig.  

Auslöser scheinen Einsamkeit oder das Bedürfnis nach sozialer Interaktion zu sein. Ist dies jedoch so einfach erklärt?

Süchte sind niemals leicht erklärbar. Meine Forschungen zeigen, dass es eine Reihe von Faktoren gibt, die zur Internetsucht beitragen können – einschließlich individueller Faktoren (wie der Neigung zur Entwicklung einer Sucht), situationaler (spezifische Auslöser) und struktureller (Nutzung bestimmter Internetanwendungen wie Videospiele und sozialer Netzwerke). Einsamkeit und das Bedürfnis nach sozialer Interaktion sind also nur ein möglicher Teil davon.

In diesem Zusammenhang wird auch oft Eskapismus erwähnt: Mittels dieser Technologien wollen wir einer emotionalen Belastung – im Endeffekt der Realität – entfliehen. Werden Virtual Reality (VR)-Entwicklungen dieses Phänomen noch verstärken?

Meine Untersuchungen zeigen, dass Menschen das Internet und Videospiele nutzen könnten, um Probleme und Stressfaktoren zu entfliehen. VR könnte zu einem gewaltigen Qualitätssprung bei der Technologie-Nutzung beitragen – welche sich wiederum auf die Motivation auswirkt.

Die Internet-und Gaming-Störung wird im „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ als „condition of further study“ beschrieben. Dies bedeutet, dass die American Psychiatric Association eine weitere Forschung für eine Klassifizierung als potenzielle psychiatrische Erkrankung für richtig hält. Sollte dies nicht sofort als psychiatrische Erkrankung eingestuft werden – um bessere und Behandlungen zu ermöglichen?

Es wird sehr wichtig sein, eine Diagnose von Internet- und Spielsucht auf der Grundlage von belastbaren Beweisen in das Archiv aufzunehmen – um dadurch eine studienübergreifende Forschung durchführen zu können. Auch, um Behandlungen zu entwickeln, die wirksam sind und eine soziopolitische Grundlage, im Rahmen dessen die Therapien für betroffene Personen finanziert werden. Wir müssen jedoch darauf achten, das alltägliche Verhalten nicht zu pathologisieren.

Der CEO von Nextflix, Reed Hastings, scherzte kürzlich in einem Interview, dass sein Unternehmen bald halluzinogene Drogen anstelle von Videos verkaufen würde. „In 20 oder 50 Jahren werden die Menschen in der Lage sein, eine personalisierte blaue Pille einzunehmen, die unterhaltsame Halluzinationen auslöst und eine weiße Pille, welche die Menschen wieder in die Realität zurückholt.“ Ein Scherz oder eine realistische dystopische Vision?

Das ist keine realistische dystopische Vision. Menschen genießen Netflix und fühlen sich unterhalten, wenn sie ihre Lieblingssendungen ansehen können. Anstatt halluzinogen zu sein, ist die Möglichkeit, Shows online zu streamen, eine Entwicklung in der personalisierten Unterhaltungsindustrie.

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