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Terry Pratchetts Romane machen möglich, was uns oft unmöglich erscheint: aus einem hierarchischen Unternehmen eine agile Organisation zu formen. Doch vielleicht ist das ja gar nicht so utopisch?
Nichts geht mehr im Postamt der Stadt Ankh-Morpork. Etagenhoch türmen sich nicht ausgelieferte Briefe in den verfallenen Räumen dieser einst hochproduktiven Hallen. Die mittlerweile steinalten und schrulligen Mitarbeiter halten sich starr an ehemals geltende Routinen und Vorschriften, die heute ganz ohne Sinn und Zweck existieren. Ankh-Morpork ist die größte Stadt der von Schriftsteller Terry Pratchett erdachten „Scheibenwelt“, in der auch sein Roman „Going Postal“ spielt. Dabei handelt es sich um ein fantastisches Paralleluniversum unserer realen Welt, einer Welt magischer Gegensätze. Ganz so unterschiedlich ist die Scheibenwelt aber nicht von unserer. Denn auch die dort ansässige Post leidet unter dem Druck der digitalen Konkurrenz: Die sogenannten „Clacks“ versprechen, Nachrichten schnell bis in den letzten Winkel der skurrilen Welt zu versenden.
In diese aussichtslose Situation wird Trickbetrüger Moist von Lipwig geworfen. Seine einzige Chance, der Todesstrafe zu entgehen, besteht darin, die veraltete Post wieder zum Erfolg zu führen. Und dafür stellt der (Anti-)Held alles, was wir gewöhnlich unter Change-Leadership und funktionierender digitaler Innovation verstehen, auf den Kopf.
Mit Werken wie „Going Postal“ lohnt es sich, in ein paralleles Universum zu wechseln, wenn es um „the future of organizing“ geht. Eine Zukunft, die vielleicht gar nicht mehr so utopisch ist, wie sie scheint. Denn die auch im Buch erfolgversprechenden Grundprinzipien „Prototype! Experiment! Be agile!“, „Navigate with purpose!“ und „Distribute authority!“ haben mehr mit unserer Welt zu tun, als auf den ersten Blick erkennbar ist.
Prototype! Experiment! Be agile!
Die Umwelt, in die Moist geworfen wird, ist und bleibt chaotisch, dynamisch, unberechenbar: „What a place! What a situation!“ Dabei geht es ihm nicht anders als vielen Unternehmenslenkern in unserer realen VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity), in der die Rahmenbedingungen sich immer unberechenbarer und permanent verändern.
Daher denkt Moist erst gar nicht über langfristige Pläne und Strategien nach. Anders als konventionelle Managementansätze macht er keine Marktanalysen und Szenarioplanung. Er gibt unumwunden zu: „I donʼt know whatʼs happening here, but I donʼt know anything about delivering post!“
Stattdessen bringt er das Postamt durch permanentes Experimentieren und Ausprobieren in Bewegung – und bricht mit alten Mustern. Er geht zu potenziellen Kunden auf den Straßen, beobachtet und fragt, was sie von neuen Ideen halten und sich von einem Postsystem der Zukunft wünschen. Er entwickelt Prototypen – Minimum Viable Products (minimal überlebensfähiges Produkt; Anm.) –, mit denen neue Ideen in der Realität getestet und im Erfolgsfall weiter vorangetrieben werden; immer den „next workable step“ vor Augen.
Letʼs get the mail moving again and we can work things out as we go along. Iʼm sure ideas will occur.
(Moist von Lipwig)
Man könnte meinen, Moist von Lipwig wäre das Vorbild für Eric Ries gewesen, als er den Management-Bestseller „The Lean Startup“ schrieb. Auch für Ries geht es statt um umfangreiche (Vorab-)Planung vielmehr um unmittelbares Userfeedback auf Hypothesen und Prototypen als Ausgangspunkt für die nächsten Schritte. Den Leitsatz „Build – measure – learn!“ haben mittlerweile nicht nur extrem erfolgreiche Start-ups wie Spotify, Dropbox oder Aardvark verinnerlicht. Auch immer mehr Großunternehmen wie IBM, HUGO BOSS oder Bosch verlassen ihre ehemals geschlossenen Innovationsabteilungen und betreiben dieses „Rapid Prototyping” und führen agile Entwicklungsmethoden ein.
If you cannot fail, you cannot learn.
(Eric Ries)
Denn worauf es Moist – genauso wie Eric Ries – ankommt, ist Geschwindigkeit und Agilität. Die Haltung dafür ist nicht die der Perfektion, sondern ein „accepting constant imperfection“. Es geht nicht um die eine große „richtige“ Entscheidung, sondern um viele schnelle, klare Entscheidungen. Was funktioniert – was nicht? Fehler, Scheitern, Katastrophen sind dabei kein Versagen, sondern Ansporn und Gelegenheit, zu lernen. Gerade, als Moist mithilfe seiner Gefährten das Postamt auf Vordermann bringt, wird es von der Konkurrenz angezündet. Doch durch dieses und viele weitere Hindernisse entsteht im Postamt eine Innovationskultur: Fail fast – learn fast!
Navigate with purpose!
Geld interessiert unseren Protagonisten. Doch nicht um des Geldes willen. Und erst recht nicht als Mittel zur persönlichen Machtsteigerung. Geld zu gewinnen, ist für ihn ein Spiel – ein Mittel zum Zweck. Etwas, das in unserer Welt viele Unternehmen durch den Fokus auf kurzfristige Profite und die Steigerung des Shareholder Value aus den Augen verloren haben.
Statt Profitmaximierung sucht Moist nach einer Antwort der Postorganisation auf die Fragen: Was wollen wir in die Welt bringen? Wofür wollen wir unsere Energie einsetzen? Und was will die Welt von uns? Der Daseinszweck und zentrale Bezugspunkt der Organisation – ihr Purpose – entsteht dabei aus der Beobachtung der Briefe, der Aufgabe selbst. Sie, die vielen unausgetragenen Briefe selbst, fordern lautstark von ihm: „Deliver us!“.
Moist schwört alle auf den gezeigten Purpose ein: „The mail must move!“. Und alles, was von nun an im sich rasend schnell verändernden Postsystem von Ankh-Morpork getan, entschieden und in Angriff genommen wird, zielt einzig darauf ab, diesen Purpose zu verwirklichen. Dabei achtet Moist darauf, die Identität der Organisation zu wahren – indem er gutes Altes beibehält und überall dort Neues entwickelt, wo es unter neuen Bedingungen besser funktioniert.
Auch in unserer Welt suchen und verbinden sich immer mehr Unternehmen mit ihrem Purpose. Darunter nicht nur Start-Ups und Social-Enterprises, sondern auch Mittelständler und internationale Großunternehmen wie Google, Virgin, REI, Patagonia oder PepsiCo.
„Das mag sich gefühlsduselig anhören“, so Professor Hirotaka Takeuchi von der Harvard Business School, „insbesondere für Unternehmensführer, die in einem Denken in quantifizierbaren Messgrößen wie Verkaufszahlen und Umsatzrendite trainiert sind. Aber in einer Welt in rapidem Wandel und mit großer Unsicherheit liegt der größte Wettbewerbsvorteil genau in diesem Kern.“ Die Klarheit über den Daseinszweck der eigenen Organisation schafft einen gemeinsamen Sinnzusammenhang für Mitarbeiter und zieht Kunden, Partner und Talente an, die sich mit diesem Sinn und Zweck verbinden wollen. Ein gemeinsamer Purpose bündelt ansonsten breit gestreute Ideen, Energien und Interessen zu neuen Projekten und Innovationen, lässt interne Abteilungen und Prozesse neu zusammenspielen und ermöglicht als strategisches Instrument und Fixpunkt die Steuerung in turbulenten Zeiten.
Purpose is at the essence of why firms exist. There is nothing mushy about it – it's pure strategy.
(Hirotaka Takeuchi)
Distribute authority!
In der Öffentlichkeit trägt Moist zwar einen geflügelten goldenen Hut und einen goldenen Anzug. Aber im Hintergrund lehnt er die Führungsrolle, Hierarchien sowie jede Form der Vorgabe und Kontrolle ab. Im Kern steht bei seinem Vorgehen verteilte Autorität und Selbstermächtigung. Kurz: Er vertraut den Menschen und traut ihnen zu, Aufgaben selbst zu ergreifen und gemeinsam bestmöglich voranzubringen.
In die Entscheidungsprozesse der Organisation bezieht er möglichst viele verschiedene Perspektiven ein und verlagert die Entscheidungsautorität dorthin, wo Know-how und Kompetenz zur Entscheidungsfindung liegen: bei den Menschen, die ihr Geschäft verstehen. Moist lässt natürliche Hierarchien entstehen. Mit klaren Rollen und Entscheidungsbefugnissen, in denen Ownership und Unternehmergeist zur Wirkung kommen.
Es geht Moist letztendlich darum, Mitstreiter für diese neue Kultur zu finden und ein Movement für die DNA der Organisation zu schaffen. Die Mitarbeiter der Post übernehmen Verantwortung und arbeiten sowohl in als auch an der Organisation. Sie experimentieren sich gemeinsam in die Zukunft. Die Veränderung des Postamts geschieht nicht „top-down“, sondern beginnt an allen Ecken und Enden.
The heart of the matter is that workers and employees are seen as reasonable people that can be trusted to do the right thing. With that premise, very few rules and control mechanisms are needed.
(Frederic Laloux)
Selbstorganisation und verteilte Autorität jenseits konventioneller Hierarchien entwickeln sich auch in unserer Welt zu Erfolgsprinzipien der Unternehmensführung. Eindrucksvolle Beispiele finden sich im Management-Bestseller „Re-Inventing Organizations“ von Frederick Laloux. Hier beschreibt er, in welchen Organisationsformen Unternehmen wie Patagonia, Morning Star, FAVI oder der niederländische Pflegedienstleister Buurtzorg (mit seinen 14.000 Mitarbeitern und ohne einen einzigen Manager) ohne zentrale Steuerung durch Vorgabe und Kontrolle hoch erfolgreich und profitabel operieren.
Neue Geschichten
Der Blick in andere Welten zeigt, dass wir uns über unsere Welt und ihre Organisationsformen letztlich auch nur Geschichten erzählen. Und weil wir schon so lange in diesen Geschichten leben, halten wir sie für die Wirklichkeit. Wir kommen gar nicht auf die Idee, unsere Wirklichkeit zu verändern, indem wir uns neue Geschichten über sie erzählen – und sie auch zu leben.
If you give people instructions, then ideally you will get the results you had expected. However, if you give them greater freedom, you can get ideas far beyond expectations.
(Dieter Zetsche)
Terry Pratchett beschreibt die Zukunft des Organisierens – und ist damit viel näher an der Wirklichkeit, als wir es uns vorstellen können. „Viele Unternehmenslenker und Mitarbeiter in unserer Welt haben bereits verstanden, dass pyramidenartig geprägte Hierarchien zu starr sind, um die Herausforderungen der VUCA-Welt zu meistern. Unsere herkömmlichen Kommunikations- und Entscheidungswege sind zu träge und zu langsam, um mit der nötigen Flexibilität auf die zahllosen Veränderungen zu reagieren und die erforderliche Innovationskraft und -geschwindigkeit zu entfalten“, sagte unlängst Daimler-Vorstand Dieter Zetsche bei der Auftaktveranstaltung zur unternehmensweiten Veränderungsinitiative Daimler 2020. Er stellt sich damit hinter eine Bewegung, die neue Potenziale für Menschen, Unternehmen und Gesellschaften freisetzen kann.
Doch es braucht Mut von noch mehr Unternehmen, neue Geschichten zu erzählen. Geschichten über Organisationen jenseits der Hierarchie, über Organisationsziele jenseits der Profitmaximierung, Geschichten über die Zusammenarbeit von Menschen jenseits des Modus von Vorgabe und Kontrolle, die sich in turbulenten und komplexen Verhältnissen schnell und jederzeit verändern. In Welten, die nicht planbar, linear und in ihren Entwicklungen vorhersehbar sind – so, wie es unsere bereits ist.