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Die E-Pille

Die utopische Vorstellung, ein beliebiges Protein von selbst im Körper produzieren zu lassen, könnte bald schon Realität werden. Denn in Zürich forscht man an der E-Pille.

Bestandteile und Verwendungsmöglichkeiten von Implantaten waren in der chirurgischen Medizin schon immer ein spannendes Thema. Besonders heftig diskutiert wurde der vermeintlich gesundheitsschädliche Einsatz von Silikonöl für dünnwandige Brustimplantate, die in den 1960er- Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelt und vermarktet wurden. So wurden die Ursprünge und Auswirkungen dieser Erfindungen etwa auch in der US-amerikanischen Dokumentation „Breast Men“ thematisiert.  Doch hätte man sich damals jemals vorstellen können, dass die Innovation einmal ein noch viel höheres Level erreichen würde – nämlich in Form von elektronischen Implantaten? Tatsächlich könnte diese Vision bald realisiert werden, da eine Forschungsgruppe der ETH Zürich unter Leitung von Martin Fussenegger vom Department of Biosystems Science and Engineering an der „E-Pille“ arbeitet. Mit einer herkömmlichen Pille hat diese aber wenig zu tun, lediglich Form und Größe sind die einzige Gemeinsamkeit.

Doch wie genau soll diese E-Pille funktionieren? Zuerst wird die E-Pille minimalinvasiv und ohne großen medizinischen Aufwand unter die Haut implantiert. Analog zu einem Brustimplantat erkennt der Körper jedoch, dass dieses elektronische Implantat körperfremd ist. Folglich reagiert er ganz natürlich und umhüllt die E-Pille mit einer Kapsel aus Bindegewebe, welche sie mit Nährstoffen versorgt und gleichzeitig durch ihren membranösen Aufbau vor dem körpereigenen Immunsystem schützt.

Die E-Pille selbst besteht aus zwei Teilen: Einer davon enthält Designer-Zellen und der andere die Elektronik. Bei den Designer-Zellen handelt es sich um genetisch modifizierte Zellen, welche in Reaktion auf ein Lichtimpuls oder chemische Botenstoffe das gewünschte Protein bilden. Dieses wiederum kann ein Enzym, Neurotransmitter oder auch Hormon sein. So lässt sich laut Fussenegger mithilfe der E-Pille zukünftig „eines der größten medizinischen Probleme der entwickelten Welt angehen, nämlich die Stoffwechselerkrankungen der reicheren Bevölkerungsschichten“. Bei Diabetespatienten beispielsweise würden die Designer-Zellen nicht nur das fehlende Insulin herstellen, sondern auch die Stoffwechsellage des Patienten überwachen und autonom auf Abweichungen des Blutzuckerspiegels vom Idealwert reagieren – ein Eingriff, der die Lebensqualität des Patienten enorm erhöhen würde.

Doch wie soll dieses System mit der Außenwelt kommunizieren und wozu bedarf es der elektronischen Komponente? Um das Kommunikationsproblem zu lösen, arbeitete die Forschungsgruppe der ETH Zürich mit der sogenannten Optogenetik. Dabei wurden mittels  EEG-Headband (einer Art Stirnband, an dem Elektroenzephalografie-Elektroden angebracht sind, Anm.) Gehirnströme gemessen, ausgewertet und via Bluetooth an einen Empfänger geschickt. Dieser kommuniziert über ein elektromagnetisches Feld mit dem elektronischen Teil der E-Pille. Sobald das Magnetfeld die Empfängerspule in der Kapsel erreicht, wird im elektronischen Teil der E-Pille Infrarot-Nahlicht emittiert, welches die Designer-Zellen bestrahlt und dazu anregt das gewünschte Genprodukt zu produzieren. Mit diesem neuartigen Ansatz konnte man erstmals kabellos mit Zellen kommunizieren und so die Produktion von Proteinen nur mit Gedanken steuern. So können Zellen nicht nur den Stoffwechsel der Träger überwachen, sondern theoretisch ganze Organsysteme ersetzen und Tumorzellen in frühen Stadien erkennen, um mit dem passenden Proteinprodukt zu intervenieren. „Stellen Sie sich vor man könnte, anstatt die Symptome einer fehlgeleiteten Bauchspeicheldrüse zu behandeln, gleich das ganze Organ durch ein intelligentes Implantat ersetzen“, sagt Fussenegger.

Anwendung-Arbeit-Arzt

So sehr diese Forschungen noch nach Zukunftsmusik klingen – Fussenegger und sein Team können bereits erste Erfolge vorweisen. Dazu wurde die E-Pille zunächst einer Maus implantiert. Anschließend konnten über die Messung der Gehirnströme eines menschlichen Probanden mittels EEG und der anschließenden elektromagnetischen Übertragung an die E-Pille, tatsächlich messbare Proteinmengen in die Blutbahn der Maus abgegeben werden. Bislang arbeitet die Forschungsgruppe noch im universitären Rahmen, will sich aber bald strukturell und finanziell neu ausrichten. Es ist die Ausgliederung des Projekts in ein klassisches Start-up oder ein Spin-Off angedacht, um anschließend über mehrere Investmentrunden Gelder aufzunehmen und weitergehende Forschung zu ermöglichen. Bislang gibt es noch keine Partner aus der Pharmabranche, da das Projekt noch derart jung ist und die klinische Phase noch nicht erreicht hat. Sobald die Tierversuche aber weiter vertieft und abgeschlossen wurden, wird das Projekt in den klinischen Bereich übergehen, um erste Studien an Menschen durchführen zu können. „In fünf bis zehn Jahren wollen wir im klinischen Bereich sein und unsere Ergebnisse an Ärzte übergeben, die dann zielgerichtete Studien an Patienten durchführen”, sagt Fussenegger.

Generell sind, wie auch bei anderen Innovationen im Gesundheitssektor weltweit, die Kosten ausschlaggebend. Die Krebstherapie Kymriah des schweizerischen Pharmakonzerns Novartis (körpereigene Immunzellen sind programmiert um bösartige Tumorzellen erkennen und bekämpfen zu können, Anm.) kostet beispielsweise bis zu 500.000 $ pro Patient. Doch im Gegensatz zu den Betroffenen von Gefäß- und Stoffwechselerkrankungen, welche man mit der E-Pille behandeln würde, ist die Zahl von Krebspatienten sogar relativ klein. Wenn man nun solch hohe Summen den Langzeit- und Folgekosten der Behandlung von chronischen Erkrankungen gegenübergestellt – diese machen beispielsweise bei Diabetes allein in Österreich 4,8 Milliarden Euro pro Jahr aus– wirken die anfänglichen Finanzierungskosten derartiger Projekte durchaus leistbar.

Um den potenziellen Kostenvorteil der E-Pille für Patienten und Krankenkassen zu illustrieren, ist Diabetes Mellitus ein gutes Beispiel. Denn laut der Weltgesundheits-organisation (WHO) litten in Deutschland 2016 rund 7,4 Prozent und in Österreich sechs Prozent an dieser chronischen Krankheit. Durch die bei E-Pillen verwendeten Designer-Zellen, welche die Insulinproduktion im Körper übernehmen würden, fallen die Kosten für eine künstliche Diabetesbehandlung und die industrielle Insulinproduktion zur Gänze weg. Vorausgesetzt die pharmazeutische Erzeugung von Designer-Zellen, die in diesem Beispiel Insulin produzieren, gelingt ebenfalls kosteneffizient und wird von der Ethikkommissionen zugelassen, könnten E-Pillen auch schon in der Anschaffung günstiger ausfallen. Aber würden Krankenkassen die Kosten für die E-Pille übernehmen? Das ist in diesem frühen Stadium schwer zu sagen, aber da nicht nur Arzt und Patient entlastet sondern auch Behandlungskosten reduziert werden, scheint eine Übernahme der Kosten für eine E-Pille durch Sozialversicherungsträger und Krankenkassen im DACH-Raum nicht unwahrscheinlich.

Als letztes stellt sich noch die Frage, wo das elektronische Implantat zuerst Fuß fassen wird – etwa in Mitteleuropa oder nur in jenen Staaten, die niedrige bürokratische Hürden bei der Zulassung von Medizinprodukten haben? Am MIT – Massachusetts Institute of Technology forscht ein Team gerade an einem ähnlichen Konzept: Eine E-Pille wird geschluckt, welche im Magen zum Beispiel innere Blutungen erkennen kann und diese Informationen in Echtzeit und drahtlos an ein Smartphone überträgt. Das ermöglicht schnellere Diagnosen, ohne operativen Eingriff.

Kommt man nochmal auf das Beispiel von Diabetes Mellitus zurück, erscheint ein Markteintritt, besonders in Europa und Nordamerika aufgrund der Verbreitung dieser chronischen Krankheit, sehr erfolgsversprechend. Wenn sich also keine unerwarteten Gesundheitsrisiken – wie damals bei den Silikonimplantaten der 1960er Jahre – ergeben, rechnet Fussenegger damit, dass „mit der E-Pille ein ganz neuer Ansatz in der modernen Medizin verfolgt wird – nämlich weg vom oftmaligen Behandeln der Symptome hin zur organischen Problembeseitigung”.

Text: icons – consulting by students

Team: Sarah Bühler, Sam Noori Khadjavi, Markus Renoldner

Forbes Editors

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